Szenische Lesung: „Es gibt nicht genug Kartoffeln, es gibt nur Hunger“
Rezepte für Suppen aus Tulpenzwiebeln, Tagebucheinträge und Gesetzestexte – bei der szenischen Lesung im Grillo-Theater Essen am 10. März wurden ausgewählte Originaldokumente aus den im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten Europas erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Die von Schauspielerin Anette Daugardt gelesenen Fundstücke berichten eindrücklich vom Alltag der Menschen unter deutscher Besatzung, der vielfach von Mangel, steigenden Preisen, Schwarzmarkt und Hunger geprägt war. Unter der Moderation von Peter Haslinger diskutierten anschließend die Historikerin Tatjana Tönsmeyer, die Moskauer Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Irina Sherbakova sowie der in Paris forschende Historiker Stefan Martens gemeinsam mit dem Publikum. „Aus deutscher Perspektive ist es erschütternd, wie wenig bisher über das Leben der Menschen in den besetzten Gebieten bekannt ist“, sagte Tönsmeyer. Wie die Bevölkerung mit der Mangelsituation unter Besatzung umging, sei noch kaum erforscht. „In Russland war die Beschäftigung mit der Zeit der Besatzung jahrelang ein Tabu“, so Sherbakova. Die Aufarbeitung fand vor allem in literarischen Werken statt. Dabei zeigten die Dokumente aus den verschiedenen Ländern, wie unterschiedlich die Menschen die Besatzung erlebten. Martens betonte, wie wichtig daher eine länderübergreifende Perspektive bei der Erforschung sei.
Die in Kooperation mit dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung veranstaltete Lesung bildete den Auftakt zur Tagung "Societies Under Occupation in World War II: Supply, Shortage, Hunger", die vom 12. bis 14. März am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) stattfand.