Nadine Sutor, M.A.
Forschungsprofil und Projekte
Forschungsprofil
Text/Bildrelation in antiken und frühmittelalterlichen Quellen
XML/TEI-Datenmodellierung, X-Technologien
Webtentwicklung, Frontendtechnologien
Projekte
Rhodomanologia - Digitale Edition der griechischen und lateinischen Gedichte von Lorenz Rhodoman bis 1588. Mitarbeit bei der Entwicklung der Publikationsoberfläche. Die digitale Edition ist online in der Betaversion abrufbar unter: https://www.rhodomanologia.de/.
"Die Düsseldorfer Kreuzherrenbibliothek – Rekonstruktion und vergleichende Analyse". Virtuelle Bibliotheksrekonstruktion der Düsseldorfer Kreuzherrenbibliothek. Erstellung der TEI-Daten und Entwicklung der Präsentationsoberfläche der virtuell rekonstruierten Kreuzherrenbibliothek im TEI-Publisher. Portal abrufbar online unter: https://kreuzherren.ulb.hhu.de/index.html.
Dissertationsprojekt
Diagramme edieren: Zur kritischen Repräsentation visueller Narrative
Dieses Forschungsvorhaben leistet einen wichtigen Beitrag zur Editorik und zu einer „Grammatik des Edierens“ auf dem noch unterausgeleuchteten Feld der Bildlichkeit; mit Konzentration und Beschränkung auf den Bildtyp des Diagramms.
Das wissenschaftliche Interesse an der Diagrammatologie als interdisziplinärem Forschungsfeld ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Es wirkt der „visual turn“, der sich abwendet von einer rein sprachlichen Wissensvermittlung (Diagramme als Sprache) und den Fokus stattdessen auf bildhafte Narrative legt. Die textuelle Ebene wird ergänzt durch die visuelle Dimension. Disziplinen, die sich mit Diagrammen befassen sind die Kultur- und Geschichtswissenschaft, die Philosophie, die Informationswissenschaft, die Medienwissenschaft aber auch design- und kunsthistorische Wissenschaftsbereiche.
In Form einer visuellen Sprache finden sich Diagramme in kulturellen Diskursen wieder, wo sie materielle, kulturspezifische Manifestationen und medienhistorische Zeichenklassen bilden. Nach diesem Konzept versteht sich die Diagrammatik als Theorie, die sich auf materiell realisierte diagrammatische Denk- und Ausdrucksstrukturen bezieht. Die Kultur- und Medienwissenschaften befassen sich schon seit längerem mit Fragen, wie die Bildung entsprechender Vorstellungen durch Diskurse und Medien angeregt und beeinflusst wird und welche Rolle dabei die Kommunikation solcher Vorstellungen bei der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit spielt. Die kognitive Dimension, d.h. die Realisierung von Diagrammen im Sinne von Gedankenbildern spielt hingegen kaum mehr eine Rolle. Es sind vielmehr pragmatische Überlegungen, die im Vordergrund stehen. Medien und Diskurse werden als Handlungsoptionen aufgefasst, die als Mittel der (nicht nur intellektuellen oder imaginären) Weltauslegung und -gestaltung dienen. Diagrammatik ist für die Kultur- und Medienwissenschaften ein Konzept das aufzeigt, wie Wissen formuliert wird.
Die moderne Semiotik interpretiert Diagramme als komplexe Zeichen. Ein wichtiger Vertreter der Zeichentheorie ist der Mathematiker und Philosoph Charles Sanders Peirce (1839-1914). Er gilt als Mitbegründer der Diagrammatik und widmet sich dem Diagramm als spezifische Zeichenform. In seiner Auslegung nimmt die Diagrammatik die Konturen eines allgemeinen „Entwurfs- und Erkenntnisverfahrens“ an, welches an der Schnittstelle zwischen Geist und materiell verkörperten Zeichen operiert. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit dem Schematismus, eine philosophische Position die Berührungspunkte mit diagrammatischen Fragestellungen hat und auf die er aufbauend eine moderne, pragmatisch orientierte Semiotik entwickelt.
Angesichts dieser interdisziplinären Ausrichtung ist die Formulierung einer konkreten Definition von „Diagramm“ und eine klare Abgrenzung gegenüber anderen Forschungsfeldern erforderlich. Die geplante Dissertation greift unterschiedliche Konzepte und Theorien aus der Diagrammatikforschung auf. Dabei liegt der Fokus auf der medienhistorischen und medienwissenschaftlichen Bedeutung von Diagrammen als editionswissenschaftlicher Herausforderung. Es wird zu diskutieren sein, wie bildhafte Konzepte als visuelle Narrative übersetzt und abstrahiert werden können und welche Technologien für die Darstellung, Vermittlung und Erläuterung von Diagrammen in Frage kommen. Nicht berücksichtigt werden metaphysische, kognitionswissenschaftliche und gesellschaftstheoretische Konzepte und Theorien aus der abendländischen Philosophie.
Zu allen Zeiten haben sich Menschen ein Bild von der Welt gemacht und festgehalten, wie sie sie verstanden und interpretiert haben. Seit ihren skizzenhaften Anfängen (Höhlenmalerei) ist bis heute eine Vielzahl von schematischen Bildern entstanden. Praktiken visueller Welterzeugung in Form von Zeichnungen lassen sich bereits in der Antike beobachten und haben sich bis heute als Mittel zur Konstruktion von Ordnungsvorstellungen bewährt. Aufgrund der Vielzahl an historisch bedeutsamen und gestalterisch unterschiedlichen Diagrammen sollen vor allem zwei Quellen für eine Analyse unter editionswissenschaftlichen Gesichtspunkten besonders untersucht werden. Diese markieren einerseits in dem die Antike tradierenden Frühmittelter und andererseits in dem hier für Innovation stehenden Hochmittelalter das Entstehen der Diagrammatik im engeren, heutigen Sinne. Exemplarisch werden dazu Diagramme aus dem compendium historiae in genealogia Christi des Petrus von Poitiers und aus De natura rerum von Isidor von Sevilla hinsichtlich Wissensvermittlung und subjektiven Interpretation des Weltverständnisses untersucht und miteinander verglichen werden. Sie sollen dann aber auch als Fallstudie für Grundfragen der Editorik dienen.
Bisher ist die Editionswissenschaft eher unreflektiert mit der Frage umgegangen, wie man Diagramme als bildhafte Darstellungen kritisch wiedergeben kann, da es bis dato keine editorische Theorie der Diagramme gibt. Die Editorik versteht sich ursprünglich vor allem als Philologie mit dem Interesse an Sprache und Text, weniger mit deren Veräußerung in Bildern. Unter Berücksichtigung editionswissenschaftlicher Aspekte wird in der geplanten Dissertation zentral diskutiert was es bedeutet, Diagramme zu repräsentieren und zu edieren. Und zwar in Bezug auf die Analogiebildung zur Repräsentation von Text einerseits und als eigenständige Bildkritik andererseits. Dabei geht es nicht um eine Gegenüberstellung, sondern um Relationierung und Positionierung. Text wird als Menge von (a) Sätzen/Wörtern oder (b) Schriftzeichen verstanden. Diese werden wiederum als Codes interpretiert, jeweils entsprechend recodiert, identifizieren und kritisiert (Textkritik). Ein Bild wird NICHT als einfacher Code verstanden. Zwar gibt es "Komposition", Bildelemente und Farben. Wie geht man aber mit der Repräsentation von Bildern als „Ganzes“ um? Man übersetzt bis jetzt nicht einen zugrundeliegenden abstrakten Code in einen entsprechenden formalisierten Code, sondern geht zunächst den Weg über ein Faksimile. Abseits der Faksimilierung kann man nur verbal "beschreiben". Diagramme lassen sich aber vielleicht zwischen beiden Ebenen, d.h. zwischen Text und Bild einordnen. Bei diagrammatischen Darstellungen haben wir keine klare Sprache wie bei Text (keine Wörter oder Zeichen), dafür jedoch mehr Struktur und Abstraktion als bei Bildern und damit wiederum mehr „Code“. Wir können "gleiche Diagramme" identifizieren, auch wenn sie ganz unterschiedlich "aussehen", wie es anhand der Gegenüberstellung des Petrus von Poitiers und Isidor von Sevilla gezeigt wird. Es muss eine Essenz der Diagramme jenseits der reinen Bildlichkeit geben, auf die man mit der Repräsentation zielen müsste, für die wiederum eine Sprache oder ein Codesystem erforderlich ist.
Bei der Analyse von Diagrammen geht es darum herauszufinden, was es mit der jeweiligen Repräsentation von Texten und Bildern auf sich hat und was man daraus lernen und adaptieren kann. Ein wichtiger Begriff ist der von Sybille Krämer eingeführte Terminus der "operativen Bildlichkeit". Er spezifiziert mehrere miteinander verwobene Eigenschaften wie Flächigkeit, Gerichtetheit, Graphismus, Syntaktizität, Referenzialilät und Operativität. Zu Formen operativer Bildlichkeit zählen auch Diagramme, die wiederum aus der Interaktion von Punkt, Linie und Fläche hervorgehen. Dies scheint ein sehr wichtiger Ansatz für die Erklärung nicht nur der Repräsentativität, sondern auch für die Entstehung von Diagrammen zu sein, weil hiermit der Unterschied zur "reinen" Bildern markiert wird.
Praktischer Teil
Vor der Transformation und Recodierung des Diagramms muss zunächst ein systematisches Konzept entwickelt werden, das die Möglichkeiten und Optionen im Umgang mit unterschiedlichen Repräsentationsformen evaluiert. Hier bewegen wir uns auf unterschiedlichen Ebenen, die sich zwischen der Mimesis, einer kritischen Repräsentation und dem „Werkverständnis“, d.h. der intentionalen oder „idealen“ Form jenseits der Einzelzeugen, positionieren. Letzteres meint eine Übertragung der editorischen Idee der Edition als Realisierung des Werkes jenseits der individuellen Ausprägung und Varianz der Zeugen.
Der praktische Teil der Dissertation knüpft an die o.g. Idee der Abstraktionsstufen an. Durch den Einsatz computergestützter Verfahren und Technologien der Digital Humanities soll es darum gehen eine allgemeine Sprache der abstrakten Recodierung zu finden, die unterschiedliche Repräsentationsformen und -stufen von Diagrammen beschreibt und durch Recodierung und Repräsentation realisiert. Am Beispiel ausgewählter Diagramme des compendiums und De natura rerum soll u.a. mit SVG als Verfahren der digitalen Bildrepräsentation die Frage diskutiert werden, inwieweit eine editorisch naheliegende oder eine auf ein „schöne“ Abbildung zielende Mimetik durch eine systematisierende Wiedergabe ergänzt werden kann. Auf diese Weise können unterschiedliche Abstraktionsstufen generiert werden, die einerseits Aufschluss über die Entstehung des jeweiligen Diagramms, über Schreiberspezifika oder auch stemmatologische Nachbarschaften und Abfolgen offenbaren können. Dieser Prozess erlaubt andererseits die Produktion abstrahierender und idealisierender Abbilder der Diagramme (das Diagramm als Werk jenseits der Fassungen) und lässt Fragestellungen zu, die die Quelle mit einer heutigen Sicht konfrontieren: Was wäre eine zeitgemäße Form der Wiedergabe?
Mit Blick auf die Realisierung der Repräsentationsformen ergeben sich zwei methodische Ansätze, die ein je unterschiedliches editorisches Konzepte verfolgen: Eine dokumentbezogene diplomatische Nachbildung der graphischen Darstellung der Diagramme sowohl im compendium als auch in der frühmittelalterlichen Kosmologie De natura rerum in Rastergrafiken (direkte Faksimiles) oder als SVG-Vektorgrafiken inklusive der exakten Übernahme von Größenverhältnissen, Positionen, Farben, Illustrationen. Fokussiert wird hier ein mimetischer Anspruch, der eine 1:1 Übersetzung des Diagrams in das digitale Medium anstrebt. Der zweite Ansatz rückt eine dokumentübergreifende schematische Darstellung in den Vordergrund. Sie bildet die Grundlage für einen übergeordneten Vergleich der Diagramme aus unterschiedlichen Handschriften und rekonstruiert auf diese Weise ihre Überlieferung. Die zweite Methode ermöglicht die Feststellung einer gemeinsamen Grundstruktur und handschriftenspezifische Abweichungen der diagrammatischen Darstellungen in allen Handschriften. Aufgrund der beliebig großen und stufenlosen Skalierbarkeit eignet sich SVG als XML-basiertes Datenformat für ein derartiges Forschungsvorhaben, in dem eine Vielzahl an Vektorgrafiken erstellt, systematisch gegenübergestellt und visualisiert werden, besonders gut. In Analogie zu Texten fehlen für Diagramme jedoch „Transkriptionsregeln“, da man bis dato noch keinen zu transkribierenden Code „erfunden“ hat. Dieser Problematik könnte man jedoch mit der „menschenlesbaren“ Bild-„Sprache“ SVG entgegentreten. Insgesamt zielt die geplante Dissertation auf eine systematische Reformulierung der Bildsprache der Diagramme ab, für die SVG als Verfahren der digitalen Bildrepräsentation vielversprechend erscheint.